Fulda | Bundesverdienstkreuz am Bande an Palliativmediziner Dr. Thomas Sitte im Fürstensaal des Fuldaer Stadtschlosses überreicht

Visionär, mutig, risikobereit

Für sein besonderes ehrenamtliches Engagement bei der Weiterentwicklung der Palliativmedizin wurde dem national und international renommierten Palliativmediziner und Autor Dr. Thomas Sitte (65) am Montag von Fuldas Oberbürgermeister Dr. Heiko Wingenfeld (CDU) im Namen von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Bundesverdienstkreuz am Bande überreicht.

Von Mirko Luis

Sitte habe nicht nur die eigenen beruflichen Interessen hintenangestellt, sondern bisweilen sogar seine berufliche Existenz riskiert, um die Lebensbedingungen „auf der letzten Etappe des Lebens“ zu verbessern. „Und damit etwas getan, was sicherlich nur wenige Menschen im Sinne ihrer Überzeugung tun würden“, sagte der prominente osthessische Politiker mit tiefem Respekt anlässlich der Feierstunde im Fürstensaal. Er vergaß hierbei nicht den Anteil, den seine Familie daran habe, zu betonen. Er bat Sittes Frau, die Ärztin Edelgard Ceppa-Sitte, auf die Bühne, um dieser einen Blumenstrauß zu überreichen.

 

Der feierlichen Zeremonie wohnten neben dem Großteil der Familie, privaten Weggefährten und Sportsfreunden des „Team Eisenhart“ unter anderem Stadtverordnetenvorsteherin Margarete Hartmann (CDU), Bürgermeister Dag Wehner (CDU), Kreisbeigeordneter Hermann Müller (CDU), seitens der Deutschen Palliativstiftung (DPS) Dr. Hubert Schindler und Prof. Dr. Carsten Schütz, Dr. med. Jörg Simon (Gesundheitsnetz Osthessen), Dr. Gottfried von Knoblauch zu Hatzbach (Ehrenpräsident der Landesärztekammer Hessen), Hessenmed-Vorstandsvorsitzende Rosemarie Wagner, Fuldas IHK-Präsident Dr. Christian Gebhardt und IHK-Hauptgeschäftsführer Michael Konow sowie Hans-Jürgen Dröge („Ritterorden vom Heiligen Grab zu Jerusalem“) sowie Magistratsmitglieder und Stadtverordnete bei.

Ein „den Menschen zugewandter Mediziner“

In einer 35-minütigen Laudatio zeichnete Wingenfeld die  Lebensstationen von Sitte, der ein Arzt mit „Leib und Seele“  sei,  nach. Er sei „ein den Menschen zugewandter Mediziner“.  Dass man die Verleihung in Fulda vornehmen dürfe, das sei keineswegs selbstverständlich bei einer Persönlichkeit wie Dr. Sitte, der überregionale Wirkung erzeuge. „Deshalb fühlen wir uns sehr geehrt“, so das Stadtoberhaupt. Schließlich wären für die Ehrung auch die Bundeshauptstadt Berlin oder Hessens Landeshauptstadt Wiesbaden in Frage gekommen.

Fulda mit großer Wissenschaftstradition

Wingenfeld zufolge könnte der Ort der Ehrung passender nicht sein. So stünden die Fürstäbte und Bischöfe ja auch für eine große Wissenschaftstradition der Stadt Fulda und der Region, in der  1734 die Adolphs-Universität Fulda („Alma Mater Adolphiana“) mit einer juristischen und medizinischen Fakultät gegründet worden sei. „In beiden Wissenschaften haben sie Beeindruckendes geleistet.“

Besinnung auf die Wurzeln der Demokratie

Wingenfeld trug die aus dem Jahr 1951 stammende Amtskette, wie einst schon der hiesige Politiker Dr. Cuno Raabe (1888 – 1971).  In jenem Jahr sei von Bundespräsident Theodor Heuss das erste Bundesverdienstkreuz überreicht worden. Der seinerzeit Geehrte, Bergmann Franz Brandl aus Nentershausen (Landkreis Hersfeld-Rotenburg), sei quasi gleich aus der Nachbarschaft im osthessischen Bergland gekommen. In der damals gerade einmal zwei Jahre alten Bundesrepublik, den schrecklichen Eindruck der Geschichte vor Augen, sei es dem damaligen Bundespräsidenten ein wichtiges Anliegen gewesen, sich auf die Wurzeln der Demokratie zu besinnen. „In Zeiten, in denen unsere Demokratie und gesellschaftliche Grundordnung  von so vielerlei Seiten herausgefordert wird, ist es immer auch wesentlich, sich auf die Wurzeln unserer Demokratie zu besinnen“, betonte der Fuldaer OB. Vielen sei damals schon bewusst gewesen, dass die Demokratie kein Selbstläufer sei, sondern dass die freiheitliche Gesellschaft davon lebe, dass es Menschen gebe, die sich ehrenamtlich engagierten, fügte er hinzu.

Globales Denken und „umfassender Humanitätsanspruch“

Nach seinen einleitenden Worten wandte sich Wingenfeld der Vita von Dr. Thomas Sitte zu, der in Oberlemp (Lahn-Dill-Kreis) geboren wurde, in Wetzlar sein Abitur machte, seit seinem erfolgreich abgeschlossenen Medizinstudium in Bochum, Bonn, Würzburg und Berlin als Arzt tätig sei und über Qualifikationen als Facharzt für Anästhesiologie, Facharzt für spezielle Schmerztherapie,  Facharzt für manuelle Therapie, Facharzt für Palliativmedizin, Facharzt für Notfallmedizin, Facharzt für Tauchmedizin und Facharzt für Sportmedizin verfüge. „Allein die Vielzahl der Facharztqualifikationen beschreibt die ganz besondere Vielfalt, die Dr. Sitte auszeichnet“, meinte Wingenfeld. Im Anschluss richtete der Laudator den Blick auf die medizinischen Wirkungsstätten von Sitte, die von Berlin und Hamburg über Nordhorn (Niedersachsen) bis Lauterbach und in die Heimat nach Fulda reichten. Ende der 1980-er Jahre habe er sich zudem in der ecuadorianischen Hauptstadt Quito im Einsatz befunden, was für das globale Denken und den „umfassenden Humanitätsanspruch“ stehe. Sitte sei ein „Arzt mit Leib und Seele“, ein „echtes Vorbild“. All das sei allerdings nicht ausschlaggebend für die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes am Bande. „Es geht hier vielmehr um das Ehrenamt, das mit großem persönlichen Einsatz und unter Zurückstellung eigener Interesse für längere Zeit ausgeübt sein muss.“

Ehrenamtliches Wirken mit unterschiedlichen Kapiteln

Im Zusammenhang mit dem ehrenamtlichen Wirken bedankte sich Wingenfeld bei Dr. Sitte, dessen ehrenamtliches Wirken ganz unterschiedliche Kapitel habe. So hätte er sich nämlich auch um das Ehrenamt in der Stadt Fulda in besonderer Weise verdient gemacht. Wingenfeld bezeichnete es als „absolut ungewöhnlich und bemerkenswert“, dass Sitte in seinem Wohnort Kämmerzell in den Jahren 1997/98 Wehrführer der Freiwilligen Feuerwehr Kämmerzell gewesen sei und sich unter anderem auch an der Gründung der Jugendfeuerwehr beteiligt habe. Zudem habe er hier einige Jahre als Feuerwehrarzt gewirkt.

„Man wollte mich aus dem Verkehr ziehen“

Entscheidend für die hohe Auszeichnung durch den Bundespräsidenten sei das ehrenamtliche Wirken für die Weiterentwicklung der Palliativmedizin gewesen, betonte Wingenfeld. Hierbei erinnerte Wingenfeld, der selbst ein gewiefter Jurist ist, an das medizinische und rechtliche Neuland, das Sitte „mit hohem Risiko“ beschritten habe. Details dazu hatte der am Montag geehrte Mediziner wenige Tage vor der Ehrung in einem Interview mit der Fuldaer Zeitung beschrieben. Sitte, der sich als Arzt niedergelassen und sich mit seiner Praxis als Schmerz- und PalliativZentrum Osthessen spezialisiert hatte, begleitete in seinem Leben schon sehr viele Palliativ-Patienten. Die Fuldaer Zeitung zitierte ihn unterdessen mit dem Worten, dass er hierbei auch schon „viele schlimme Dinge“ erlebt habe, weil seinerzeit „die Versorgungsmöglichkeiten schlecht und Vorschriften abwegig“ gewesen seien. Dem Zeitungsbericht zufolge entwickelt er 2005 mit dem Apotheker Rainer Brosig eine Methode, um mit Hilfe von nasalem Fentanyl effektiv Schmerzen und Atemnot zu lindern. Doch dann sei ein Pharmahersteller mit einem ähnlichen Produkt auf den Markt gekommen, das nicht ganz so gut, dafür aber um ein Vielfaches teurer gewesen sei. Der Hersteller zeigte ihn prompt an, die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen Drogenmissbrauchs, weil es damals verboten war, derartige Medikamente über Nacht oder am Wochenende beim Patienten zu lassen. „Man wollte mich aus dem Verkehr ziehen“, so Sitte gegenüber der Fuldaer Zeitung. Zwar sei das Verfahren unter Auflagen eingestellt, die Praxis habe er jedoch aufgegeben und sei zwei Jahre ohne Einkommen geblieben.

Auf viel Materielles verzichtet

2010 hatte Sitte dann die Deutsche Palliativstiftung gegründet. In dem Zusammenhang hob Wingenfeld hervor, dass Sitte dieses Jahr über ein Jahr lang unentgeltlich und ehrenamtlich ausgeübt hat und bis heute daran arbeitet, die Themen Hospizarbeit und Palliativversorgung  voranzubringen. Er habe die Stiftung in schwierigen Zeiten „in erheblichem Umfang“ mit Eigenmitteln unterstützt – unter anderem mit Buchtantiemen – und auf viel Materielles verzichtet. In einer Zeit, in der jeder die Frage stelle „Und was habe ich davon“, sei das vorbildlich, unterstrich OB Dr. Heiko Wingenfeld.

Idee von Dr. Sitte findet mittlerweile weltweit Verwendung

Mit Blick auf den mühsamen Weg durch die verschiedensten Institutionen, schwierige Gespräche mit Kassenärztlichen Vereinigungen sowie Gesundheitsministerien der Länder und des Bundes würdigte Wingenfeld das Ergebnis von Sittes Beharrlichkeit. Im Grunde sei es auf sein Engagement zurückzuführen, dass das Betäubungsmittelgesetz beziehungsweise die Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung geändert worden sei und Ärzte somit heute kurzfristig und vergleichsweise rechtssicher schwerkranke Patienten versorgen können, ohne eine Strafverfolgung befürchten zu müssen.

Netzwerk, das am Lebensende unterstützt, wichtig

Durch seine Tätigkeit als Schmerztherapeut und Palliativmediziner habe Sitte die Erfahrung gesammelt, dass schwerkranke Patienten oft gegen ihren Willen ins Krankenhaus eingewiesen werden statt zu Hause die Liebe ihrer Familie zu spüren. Um diesen Weg zu vermeiden, so Wingenfeld, der seine Aussage selbst als „laienhaft verkürzt“ ausgab, sei die Idee zu einer vergleichsweise unkomplizierten Schmerzmittelgabe entstanden. Hierdurch hätten Krankenhauseinweisungen in kurzer Zeit massiv reduziert werden können. „Diese Idee, die vor einigen Jahren noch neu und ungewöhnlich schien, findet mittlerweile weltweit Verwendung in der Palliativmedizin“, so Wingenfeld zum mutigen Handeln und zur Weitsicht von Sitte. Durch ihn sei ihm selbst erst so richtig bewusst geworden, wie wichtig soziale Bindungen und ein Netzwerk, das einem auch am Ende des Lebens zur Seite steht, sind. Wingenfeld dazu an Sitte gewandt: „Diese Botschaft ist zwar im Kern keine medizinische, aber dass Sie als Mediziner in besonderer Weise zu dieser Erkenntnis gekommen sind und uns dazu auffordern, das soziale Miteinander zu pflegen, ist ein Appell an uns alle, füreinander da zu sein in einer Gesellschaft, die immer stärker von Individualisierung geprägt ist. Die haben sich in vielfältiger Weise für das Gemeinwohl engagiert und sich im wahrsten Sinne des Wortes um die Bundesrepublik Deutschland verdient gemacht.“

„Bin ein Mensch mit Ecken und Kanten“

Vor seiner berührenden Dankesrede  bat  DPS-Vorstandsvorsitzender Dr. Thomas Sitte – mit Blick auf den diesjährigen Totensonntag – um eine Schweigeminute für Verstorbene. Mit Ehrfurcht blicke er nach den Worten des Oberbürgermeisters darauf, was für ein guter Mensch er doch sei, sagte der geehrte Palliativ-Spezialist mit Augenzwinkern. Um hinzuzufügen, dass er auch ein Mensch mit Ecken und Kanten sei. „Darüber haben Sie freundlicherweisen hinweggesehen.“

Auch mal gegen die Strom schwimmen

In aller Bescheidenheit sagte Sitte, dass er einfach gesehen habe, was getan werden müsse, und letztendlich getan habe, was getan werden muss. Hierbei habe er sehr große Unterstützung erfahren. „Und gerade wenn die Luft dünn wird, sieht man, wie wenig Freunde man manchmal hat.“ Wobei diese Begleiter unheimlich hohe Kompetenz besessen und sehr großes Engagement an den Tag gelegt hätten. „Was ich bin, ist das Ergebnis meines sozialen Umfeldes“, fügte Sitte hinzu. Sowohl seine Zeit bei den Pfadfindern als auch sein Klassenlehrer Peter Belling  hätten ihn geprägt. Dieser habe seine Abi-Rede mit den Worten beendet: „Jetzt sind Sie dran! Machen Sie das Beste daraus, aber denken Sie daran, dass man manchmal auch mal gegen den Strom schwimmen muss.“ Das, so Sitte, habe er kräftig geübt. Doch schon als Pfadfinder habe er deren Grundeinstellung, Schwierigkeiten nicht ausweichen zu wollen, verinnerlicht. „Pfadfinder können aus einfachen Dingen oft etwas ganz Tolles machen“, beschrieb er deren Kreativität. Und fügte an, dass auch die Palliativmedizin oft mit ganz einfachen Dingen arbeite. Als „Gegengeschenk“ überreichte Sitte dem Lenker und Denker der Domstadt ein Buch mit Pfadfindergeschichten.

34-jährige Patientin: „Bitte töten Sie mich!“

Als ein einschneidendes Erlebnis, das sein ganzes Berufsleben mitgeprägt habe, führte Sitte die Begegnung mit einer 34 Jahre alten, zunehmend gelähmten Patientin gegen Ende seines Studiums an. „Bitte töten  Sie mich!“, lautete deren Aufforderung. Der angehende Arzt war völlig perplex, redete sehr lange mit ihr – und lehnte die Wunsch ab. Allerdings sollte ihn die Beantwortung der Frage, wie ein würdevolles Leben im Angesicht des Todes aufgrund einer schweren Erkrankung aussehen soll, nie wieder loslassen.

Dem Staatsanwalt heute noch jeden Tag dankbar

Freudig überrascht zeigte sich der frischgebackene Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande über die Anwesenheit des  seinerzeit leitenden Staatsanwalts Dr. Peter Gast. „Er hat alles getan, dass ich nicht für fünf Jahre in die JVA Hünfeld muss, was völlig widersinnig gewesen wäre. Ich bin ihm jeden Tag dankbar dafür.“ Zum Zeitpunkt des Verfahrens habe Gast ihm gesagt, dass Richter und Staatsanwälte Gesetze anwenden müssten und Bürger dafür zuständig wären, dass diese geändert würden. Dies habe er nie vergessen und entsprechend gehandelt. Bevor er den Wunsch an die Fördermitglieder äußerte, aktiv weitere neue Fördermitglieder zu werben, zitierte der Vater von zwei Söhnen und einer Tochter schließlich noch eine ermutigende philosophische Erkenntnis aus den USA. „Zweifle nie daran, dass eine kleine Gruppe besonnener und engagierter Bürger die Welt verändern kann. Tatsächlich sind sie die Einzigen, die das jemals taten“, lautete die von Ethnologin Margaret Mead (1901 – 1978) stammende Erkenntnis. „Wir brauchen Aufklärungsarbeit. Auch 2024 wird es weitergehen und heftige Diskussionen zum Thema Umgang mit dem Tod geben“, öffnete Sitte bereits das Fenster mit Blick ins neue Jahr.

Umtrunk und Freude über 10.000-Euro-Spendenscheck

Dem Umtrunk im Stadtschloss folgte ein Netzwerk-Charakter tragendes Beisammensein in den Stiftungsräumen. Hier durfte sich Sitte dann unter anderem über einen Spendenscheck in Höhe von 10.000 Euro der Sparda-Bank Fulda freuen.  Es müsse selbstverständlich werden, dass ein jeder Mensch wisse, wie man beim letzten Schritt im Leben eines Menschen helfen kann. Daher sei die weitere Aufklärung der Bevölkerung über die DPS enorm wichtig, verdeutlichte Matthias Böse, Filialleiter bei der Sparda-Bank Hessen eG Fulda, bei der Scheckübergabe. Gäste hatten an dem Abend übrigens Gelegenheit, Vorschläge für die weitere Verbesserung des Hospizwesens an die Pinnwand zu schreiben, das Wie dorthin zu beschreiben und zur Diskussion zu stellen, wer das betreffende Anliegen konkret umsetzen soll. Selbst beim Feiern umtreibt Dr. Thomas Sitte sein Lebensthema – unser Land bräuchte gerade in so unsicheren Zeiten wie heute noch viel mehr Problemlöser und Vordenker wie ihn.