Fulda | Fulda bekommt das achte Sozialpädiatrische Zentrum (SPZ) in Hessen – Eröffnung im Januar 2024

„Wir schenken Zeit“

Für Eltern dürfte es kaum etwas Schlimmeres als die Vorstellung geben, dass ihr Kind aufgrund einer schweren Erkrankung oder Behinderung lebenslang erhebliche Einschränkungen haben wird oder sogar vor ihnen sterben könnte. Bereits vom Zeitpunkt der Diagnose verändert sich einfach alles – betroffene Eltern bringen viel Zeit in Wartezimmern zu, konsultieren reihenweise Ärzte und zählen die Autobahn-Kilometer schon gar nicht mehr. Auch für Betroffene in Osthessen ist das eine Riesenbelastung. Doch jetzt ist Abhilfe in Aussicht.

Von Mirko Luis

So bekommt Fulda nach langem Ringen das hessenweit achte „Sozialpädiatrische Zentrum“ (SPZ). Derartige Einrichtungen befassen sich im ambulanten Bereich mit der Untersuchung und Behandlung von Kindern und Jugendlichen im Kontext ihres sozialen Umfelds. Das Fuldaer SPZ soll offiziell am 2. Januar 2024 seine Arbeit aufnehmen – und zwar in Nähe zum Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) Osthessen, kündigte Klinikum-Chef Dr. Thomas Menzel an diesem Mittwoch auf einer Pressekonferenz an. Zuvor hätten der Zulassungs- und Prüfungsausschuss bei der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) grünes Licht gegeben und die Entscheidung im Frühsommer mitgeteilt.

Das SPZ soll für die Region Osthessen die spezialisierte, interdisziplinäre Betreuung von Kindern mit Beeinträchtigungen der körperlichen, geistigen und seelischen Entwicklung sicherstellen – durch fachübergreifende Termine mit Spezialisten, Untersuchungen und Therapien vor Ort. Voraussetzung für eine Behandlung im SPZ ist eine fachärztliche Überweisung. Die SPZ-Leistungen würden wiederum durch sogenannte „Quartalspauschalen“ vergütet, so der Klinikum-Chef auf eine Marktkorb-Anfrage zur Finanzierung. Beim SPZ gehe es jedoch, wie er betonte, nicht vordergründig um Gewinn. Vielmehr sehe sich das Klinikum hier „in der Verantwortung“.

Unschätzbarer Vorteil: Kurze Wege zu Spezialisten

Die Leitung des SPZ wird der Neuropädiater (Facharzt für Kinderneurologie) Dr. Matthias Bollinger in Zusammenarbeit mit Dr. Langner übernehmen, die neben ihrer Praxistätigkeit dann auch im SPZ mitarbeiten wird. Die kurzen Wege zu den Spezialisten bezeichnete Bollinger als „unschätzbaren Vorteil“ für Betroffene. „Wir schenken Zeit“, brachte er auf den Punkt. Neben der medizinischen Betreuung werde es vor Ort auch eine sozialrechtliche Beratung für Eltern geben, um zu eruieren, inwiefern sich die wirtschaftliche Situation von Eltern verbessern lässt. Dem Vernehmen nach soll das SPZ mit 20 Beschäftigten starten.

„Sektorenübergreifende Struktur“

Laut des am Mittwoch vorgestellten Konzepts wird neben dem Klinikum Fulda auch die Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) des Herz-Jesu-Krankenhauses (HJK) ihre besondere Fachkompetenz in das neue SPZ einbringen. Darüber hinaus wird die spezialisierte Schwerpunktpraxis für Neuropädiatrie/Epileptologie von Dr. Cornelia Langner und Prof. Dr. Jens-Oliver Steiß in einer neuen „sektorenübergreifenden Struktur“ – dem „Zentrum für interdisziplinäre Neuro- und Sozialpädiatrie“ (ZiNO) – eng mit Klinikum Fulda zusammenarbeiten. Dabei handelt es sich laut Klinikum Fulda um eine „einzigartige Vernetzung ambulanter und stationärer Strukturen“.

Zunahme von chronischen Erkrankungen

Vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte wisse man, dass bereits jedes in einer Kinderarztpraxis behandelte sechste Kind beziehungsweise jeder vierte Jugendliche an einer chronischen Erkrankung leide, nannte Prof. Steiß Zahlen, die den Handlungsbedarf verdeutlichen. Ein Teil dieser Kinder benötige eine „interdisziplinäre Behandlung mit einem multiprofessionellem Team und individualisiertem Behandlungskonzept“.

Auch an die gesunden Geschwisterkinder denken

„Ein Kind mit Behinderung braucht ein Umfeld, das es fördert und begleitet“, sagt Experte Dr. Matthias Bollinger. Wobei gleichermaßen auch an die gesunden Geschwisterkinder gedacht werden müsse. Wenn diese wegen ihres behinderten Geschwisterteils etwa nicht zum Fußball oder zur Geburtstagsfeier könnten, würden diese, möglicherweise sogar traumatisiert, nach Erreichen des 18. Lebensjahres von zu Hause ausziehen und sich nicht mehr für ihren beinderten Bruder oder ihre behinderte Schwester interessieren. „Aber das behinderte Kind braucht auch als Erwachsener mit 40 Jahren noch jemand, der nach ihm schaut.“ Vom Zeitpunkt der Diagnose an sei daher der Familienerhalt, verbunden mit einer individuellen Handlungsplanung, enorm wichtig.

„Bekommen es mit vielen geplatzten Träumen zu tun“

Dr. Frank M.Theisen ergänzte bei der Vorstellung des SPZ-Konzepts, dass es Ärzte im Laufe von Behandlungen betroffener Kinder „mit vielen geplatzten Träumen“ zu tun bekämen. So müssten Kinder und Jugendlichen erst einmal bewältigen, was die Diagnose bedeute. Werde ihnen kognitiv irgendwann klar: „Ich habe ja quasi so etwas wie eine geistige Behinderung und werde nie ein Abi schaffen“, sei dies eine direkte Konfrontation mit den Auswirkungen der Krankheit, die Folgen habe und unter anderem zu Depressionen führen könne. Ebenso träte bei der Diagnose „Chronisches Asthma“ das Bewusstsein zutage, dass das Ziel, später einmal Leistungssportler zu werden, wohl nicht erreicht werden könne.