Großenlüder | Gut besuchter Jahresempfang von Gewerbeverein und Gemeinde Großenlüder

Walter Kohl fordert ein Ende der deutschen Behäbigkeit

Um ein Haar wäre der Jahresempfang des Gewerbevereins Großenlüder dem hartnäckigen Corona-Virus erneut zum Opfer gefallen. „Bei den aktuellen Inzidenzen mutet es ein wenig grotesk an, dass wir uns heute hier versammelt haben“, räumte Stephan Günther, Vorsitzender des Gewerbevereins Großenlüder, im gut besuchten Lüderhaus ein. „Mit einigen Bauchschmerzen haben wir uns dennoch durchgerungen, die Veranstaltung durchzuführen und nicht abzusagen“, fügte er in seiner Begrüßungsrede an.

Von Mirko Luis

CDU-Politiker von Land und Bund unter den Gästen

Und es war gut so, denn jeder einzelne Redebeitrag für sich genommen war das Kommen wert. Mit besonderer Freude begrüßte Günther den Mitausrichter der Veranstaltung, Bürgermeister Florian Fritzsch (SPD), und bedankte sich auch bei CDU-Bundestagsabgeordneten Michael Brand und den hessischen CDU-Landtagsabgeordneten Thomas Hering fürs Kommen und die besondere Wertschätzung für die mittlerweile traditionelle Veranstaltung. Auch Pfarrer Sebastian Latsch (Katholische Pfarrgemeinde Großenlüder) hatte den Weg ins Lüderhaus gefunden, während der evangelische Pfarrer Dr. Michael Grimm verhindert war und herzlich grüßen ließ.

Walter Kohl Gastredner in diesem Jahr



Wie bei vorangegangen Veranstaltungen standen der Netzwerkgedanken und der persönliche Austausch der Gäste im Vordergrund. Während sich André Heller, Mitarbeiter am Bauhof der Gemeinde Großenlüder und gleichzeitig Hausmeister des Lüderhauses, in bewährter Weise um die Getränke kümmerte, stellten die Fleischerei Gies und die Bäckerei Vogel den kulinarischen Part sicher. Währenddessen beflügelte Musik der Mara & Chris Miller Band die Gäste zusätzlich zum kalendarischen Frühlingsbeginn auf wunderbare Weise. Besonderer Gast in diesem Jahr war Walter Kohl, der Sohn vom „Kanzler der Einheit“ – Helmut Kohl (1930 – 2017). Der mit der Koreanerin Kyung-Sook Kohl (geb. Hwang) verheiratete Unternehmer und Autor analysierte die politische Großwetterlage mit präzisen Analysen der internationalen Politik,

Negative Auswirkungen des Ukrainekrieges deutlich zu spüren

Stephan Günther zufolge sind die negativen Auswirkungen des Ukrainekrieges auf die Wirtschaft auch in Osthessen längst zu spüren. „Die Mitgliedsunternehmen in unserem Gewerbeverein berichten von massiven Preissteigerungen an breiter Front, die nicht aufgefangen werden können und an die Kunden weitergegeben werden müssen. „Die Hoffnung, dass sich die Situation bald erholt, kann ich nicht sehen, und ich befürchte, dass wir mit einer dauerhaft hohen Inflation leben müssen, der der Verbraucher zu tragen hat“, sagte Günther. Im Anschluss richtete er den Dank an das Vorstandsteam des Gewerbevereins, ohne das weder Jahresempfang noch Frühjahrsmarkt oder das Aufstellen von Bäumen möglich sei. Ebenso wichtig sei aber die Unterstützung von außen. Und hier sei – stellvertretend für die Gemeinde – Bürgermeister Florian Fritzsch (SPD) zu nennen. Dieser, so Günther, führe die tolle Arbeit seines Vorgängers nahtlos fort, die Zusammenarbeit sei sehr unkompliziert und bereite Freude und Spaß. „Dafür darf ich Ihnen im Namen des gesamten Gewerbevereins ein großes Dankeschön ausrichten.

Lüdertalpaar: Stolz, den Titel tragen und den Ort repräsentieren zu dürfen

Abermals im Rampenlicht der Öffentlichkeit stand das Lüdertal-Paar Annemarie Hübl und Andreas Jahn. „Es ist uns eine Ehre, das vermutlich erste und einzige Paar in der 1200 Jahre alten Geschichte von Großenlüder zu sein, das diesen Titel tragen darf“, sagten sie bei der kurzen Vorstellung ihrer Aufgaben. Beide warben für die bevorstehenden Jubiläums-Festivitäten (www.grossenlueder-feiert.de). 

Investitionen in die Zukunft der Gemeinde

Rathauschef Florian Fritzsch (SPD) stieg nach der Begrüßung der Gäste mit einem bekannten Zitat von Thomas Woodrow Wilson, dem 28. Präsident der USA, in seine streckenweise emotionale, gut 20 Minuten währende Rede ein. „Wer keine Visionen hat, vermag weder große Hoffnungen zu erfüllen noch große Vorhaben zu verwirklichen“, lautete der prägnante Satz. Fritzsch schilderte nach einem kurzen Statement zum Ukrainekrieg („Wir sind entsetzt und empört über das Vorgehen Putins“) seinerseits die Visionen der Gemeinde Großenlüder. Die sei sehr gut aufgestellt und strahle über die Gemeindegrenzen hinweg Attraktivität aus. In den vergangenen Jahren seien kontinuierlich Investitionen in die gemeindliche Infrastruktur getätigt worden. „Hier knüpfen wir selbstverständlich weiterhin an“, versprach er. So betrage das im gemeindlichen Investitionshaushalt abgebildete Investitionsvolumen stolze 3,7 Millionen Euro. Hiermit stelle man sich anstehenden Herausforderungen. Die Folgen der Corona-Pandemie müssten bewältigt, die Transformation hin zu mehr Klimaschutz und Digitalisierung eingeleitet werden.



„Brain Trust“ für Realisierung eines „Innovationsparks“

„Wir werden für die Weiterentwicklung von Großenlüder bedeutsame Maßnahmen anstoßen“, kündigte Fritzsch an. So werde man sich unter anderem mit einem Expertengremium, einem sogenannten „Brain Trust“, auf den Weg machen, das von der Gemeindepolitik vorgegebene Schlagwort eines „Innovationsparks“ mit Leben zu erfüllen. Es sei sein großes Anliegen der Gemeinde, neue Gewerbeflächen auszuweisen. Einerseits würden vorhandene Unternehmen attraktive Möglichkeiten für Wachstum und für Veränderung benötigen, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Andererseits wolle man auch neue Unternehmen nach Großenlüder locken. Herkulesaufgabe sei es derzeit, entsprechende Flächen zu bekommen, was dem Bohren dicker Bretter gleiche. „Das kann ich Ihnen versichern.“ Der Erfolg des Vorhabens sei von der Kooperationsbereitschaft aller Beteiligten abhängig. 

Zuvor sagte Fritzsch, dass die Wirtschaft im Landkreis Fulda und auch das Gewerbe in Großenlüder stark seien. „Sie als Unternehmerinnen und Unternehmer, Sie als Gewerbetreibende sind zudem innovativ und gut vernetzt“, richtete er lobende Worte an die Vertreter der heimischen Wirtschaft. Das Gewerbe in Großenlüder komme in einem „breiten Branchenmix“ daher. Alle Unternehmer und Gewerbetreibende eine, „dass sie mit einem vernünftigen Gleichklang aus unternehmerischen Ambitionen und gesundem Risikobewusstsein agieren.“



32 Bauplätze in Großenlüder und Uffhausen



Unterdessen – unter Mitwirkung der Ortsbeiräte – werden mit der Erschließung der Baugebiete in Großenlüder wie auch in Uffhausen insgesamt 32 Bauplätze für die private Wohnnutzung zur Verfügung gestellt. Auf Grundlage der Vergaberichtlinien werden insbesondere junge Familien und engagierte Menschen die Chance erhalten, sich den Traum vom Eigenheim zu verwirklichen. Darüber hinaus würden Projekte mit Miet- und Eigentumswohnungen umgesetzt, so der Bürgermeister.

Auch nach 1200 Jahren noch „vital, vielfältig und bunt“

Hier in Großenlüder ein friedliches und zufriedenes Miteinander der Menschen zu ermöglichen, sei ihm als Bürgermeister „ein tief empfundenes Anliegen“, betonte Fritzsch. Großenlüder habe Visionen – wir wollen große Vorhaben umsetzen. Ganz oben auf der Agenda stehe das Ortsjubiläum. „Wer nach 1200 Jahren noch so dynamisch ist, die Zukunft mit ihren Herausforderungen fest und zuversichtlich im Blick hat und dabei noch vital, vielfältig und bunt ist, der darf es auch mal richtig krachen lassen“, so Fritzsch wörtlich. Daher lade er alle Anwesenden heute schon zum großen Festwochenende vom 8. bis 10. Juli ein.

Pfarrer Latsch: „Mutig sein und die Herausforderungen annehmen“


Pfarrer Sebastian Latsch schilderte, dass sich Menschen angesichts der immensen Herausforderungen Sorgen machen, ob sie sich überhaupt noch ein Leben hier – „in einer sehr, sehr schönen Ecke“ – leisten könne. „Das ist das, was ich als Priester mitbekomme.“ Und manchmal vermisse er ein wenig die Zuversicht und die Hoffnung. „Denn wir neigen dazu, allzu sehr die negativen Dinge zu stark wahrzunehmen.“ Das Jubiläumsjahr lade dazu ein, Rückschau zu halten, Vergangenheit zu entdecken und aus der Vergangenheit zu lernen. Latsch stellte die hypothetische Frage in die Runde, was wohl die Menschen, die vor uns gelebt haben, über uns sagen würden. „Höchstwahrscheinlich würden sie gerne mit uns, die sich Sorgen um ihren Wohlstand machen, tauschen wollen. Mit Bezug auf die Rede des Bürgermeisters rief Latsch dazu auf, mutig zu sein und die Herausforderungen anzunehmen. Und er gab Bürgermeister Florian Fritsch Recht: „Wir müssen klotzen und nicht kleckern.“ Wichtig sei, dass irgendwann diejenigen, die heute noch gar nicht geboren sind, auf dem Langenberg stehen und sagen können: So schön ist Großenlüder! „Wenn uns das gelingt, dann haben wir nicht nur den Heiland an unserer Seite, dann haben wir nach irdischen Maßstäben alles richtig gemacht, Ihnen alles Gute und Gottes Segen!“, so der Pfarrer. Mit Blick auf die laufenden Sanierungsarbeiten der Katholischen Kirche St. Georg Kirche in der Ortsmitte bedankte sich Latsch ausdrücklich bei der politischen Gemeinde, dass sich das Lüderhaus Sonntag für Sonntag zur Kirche verwandeln darf. Ein herzlicher Dank ging zudem an all die Gewerbetreibenden, die die Kirchengemeinde Großenlüder so großartig unterstützt haben, als diese wegen Corona zeitweise ohne Gotteshaus dagestanden habe.




Recherche in Moskau und Buchveröffentlichung 2020

Der prominente Gastredner Walter Kohl (58) fasste seine Erfahrungen der letzten Monate zusammen, nahm dabei Bezug auf sein 2020 erschienenes Buch „Welche Zukunft wollen wir?: Mein Plädoyer für eine Politik von morgen“ und wagte einen kleinen Ausblick in die Zukunft. In dem Buch befindet sich ein langes Kapitel, das der in der Nähe von Frankfurt lebende Volkswirt und Historiker erstaunlicherweise schon damals mit „Das System Putin ist unser Gegner“ überschrieb. Der älteste Sohn des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl erzählte von seiner Moskau-Recherche. Während die Stadt im Zentrum eine pulsierende Weltstadt sei, vergleichbar mit New York, begegne man „einer Tristesse, die unglaublich ist“, sobald man acht oder zehn U-Bahn-Stationen aus dem Zentrum herausfahre. In Holzverschlägen würden Damenkleider verkauft – für einen Durchschnittspreis unter 12 Euro. „Wir haben es dort mit einer Gesellschaft zu tun, die extrem gespalten ist und letztlich nur davon lebt, weil sie Öl und Gas exportiert. Seltsamerweise eine nahezu alle Länder, die Öl und Gas zentrierte Volkswirtschaften hätten, Diktaturen.

Vieles einfach vergessen und verdrängt

Kohl zufolge wurde in Deutschland vieles entweder vergessen und verdrängt – bis der Angriff Putins am 24. Februar auf die Ukraine einen Schlussstrich unter die europäische Friedensordnung nach dem Kalten Krieg gesetzt habe. „Wir haben einen Schock erlebt, wir haben erfahrene, dass Wahrheiten nicht mehr wahr sind“, so der Politikkenner. Letzteres sei der Kern, worüber er sprechen wolle – er wolle nicht zum Thema machen, wie sehr ihn der Ukraine-Krieg empöre und wie furchtbar er und seine koreanische Frau Kyung-Sook Kohl das finden. Bereits am ersten Tag seiner Präsidentschaft habe Putin sämtliche Korruptionsthemen eines Boris Jelzin mit einer Amnestie gegenüber seinem Vorgänger versehen; Jelzin sei somit nicht weiter belangt worden „Und wir wissen auch, dass er seitdem ein Regime umbaut, Menschenrechte mit Füßen tritt und die freie Presse abgeschafft hat“, ruft uns Walter Kohl ins Gedächtnis zurück. Wir hätten ignoriert, dass er die Rote Armee umbaut, 2008 beim Kaukasuskrieg weggeschau und verdrängt, dass 2014 ein großer Teil der ukrainischen Bevölkerung auf dem Majdan ihr Leben riskierte, die Annexion der Krim (2014) nach dem Motto abgetan „Das ist ja weit weg“ und ausgeblendet – im Donezbecken (Donbass) seien bei Kriegshandlungen in den letzten Jahren doppelt so viele Menschen gestorben wie Großenlüder Einwohner habe.

Bundeswehr muss wieder auf Vordermann gebracht werden


Zu glauben, dass Deutschland keine starke Bundeswehr mehr brauche, sei aus heutiger Sicht eine Fehleinschätzung. Diese müsste wieder auf Vordermann gebracht werden. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) habe richtig erkannt, dass der Tag der Zeitenwende gekommen sei. „Wenn es eine Lehre aus dem Ukraine-Krieg gibt, dann die, dass wir eine starke Territorialverteidigung brauchen“, so Walter Kohl. Für ihn steht fest: Wenn die Ukraine erobert wird, dann stehen bei Putin noch andere Länder auf der Liste, allen voran Moldau. „Wir müssen uns fragen, was ist unsere Freiheit wert?“, fügte er an. Noch sei die Nationale Sicherheit für uns kein Konzept, „sie muss es aber werden“. Kohl schlug in seinem Vortrag eine europäische Armee mit standardisierten Waffensystemen und standardisierten Ausbildungen vor. Wichtig sei, endlich aus der Behäbigkeit herauszukommen und aufzuwachen. „Wenn man genau hinschaut, hangeln wir uns in den letzten Jahren von Krise zu Krise. Das ist Irrsinn, das muss aufhören.“


Angst lähmt und schafft Passivität

Gelinge es dagegen, besagte Zeitenwende mit den richtigen Handlungen und Konsequenzen auszufüllen, „dann haben wir eine richtig gute Zukunft vor uns“, zeigt sich Kohl durchaus optimistisch. Stärke Deutschlands und Europas sei einerseits die stärkere Wirtschaft und zum anderen die richtigen Werte, „Wir lassen keine Leute wie im Kleinen Tiergarten in Berlin-Moabit umbringen, wir stecken keinen Oppositionspolitiker wie Nawalny ins Gefängnis und verhaften keinen Journalisten, der angesichts der Ukraine-Geschehnisse das Wort Krieg in den Mund nimmt, und verhängen eine Strafe von 15 Jahren. Putin lebe von einem Kapital: unserer Angst. Diese lähme und schaffe Passivität, „deshalb rasselt er mit dem Nuklear-Säbel“. Es sei nicht auszuschließen, dass er chemische Waffen einsetze. In Aleppo habe er davor auch nicht zurückgeschreckt. Dass er den Einsatz taktischer Nuklearwaffen erwägt, könne ebenso wenig ausgeschlossen werden. Die wichtigste Frage sei: „Haben wir dann Angst?“ Sei das der Fall, so Walter Kohl, „dann haben wir verloren“. Er wünsche sich Haltung und Vorbild, indem wir Geflüchteten helfen, aber politisch in Richtung Kreml in Moskau ganz klar zum Ausdruck bringen, dass wir uns als Deutsche und Europäer nicht einschüchtern lassen und alles dafür tun, dass so etwas wie in der Ukraine in Zukunft nicht noch mal passiert.